Gastbeitrag von Randulf Stiglitz – Stuttgart. In Anlehnung an die „Gedanken des Tages“ hier mein Wort zum Sonntag. Seit Wochen mache ich mir Gedanken über die Bundestagswahl. Gehe ich wählen oder nicht, wähle ich ungültig, wähle ich eine kleine Partei, eine Spaßpartei, eine „etablierte“ Partei? Und ich habe mehrmals eine letzte, wirklich letzte, jetzt aber allerletzte Entscheidung getroffen, wie ich mich verhalten werde. Und dann einen Tag später wieder verworfen.
Als jemand, der von einer Utopie träumt, dem funktionierenden Anarchismus, habe ich immer versucht, mein Handeln und Tun zwischen Herz und Sachzwängen auszurichten. Antifaschismus war und ist dabei immer eine Kernkomponente, die über allen anderen stand und steht, sei es Musik, Ernährungsart, bevorzugte Fortbewegungsweise etcetera, etcetera – all das, worüber man sich heute so wunderbar in die Haare bekommen kann. Ihr wisst, was ich meine, und ich bin weit davon entfernt, hier frei von jeder sektiererischen Schuld zu sein.
Ich habe meine Probleme mit dieser parlamentarischen Demokratie, vor allem mit ihrem Nicht-Funktionieren. Mit einem Grundgesetz, das im Kern – vor 70 Jahren gemacht und schon lange mit Update-Bedarf – heute schon an vielen Stellen ausgefranst und ausgehebelt ist.
In meinem realen und virtuellen Freundeskreis tummeln sich verschiedenste Positionen, und jeder hat andere Gründe zu wählen oder nicht zu wählen und eine bestimmte Partei nicht zu wählen.
Dieses Mal reicht es nicht, den Mittelfinger zu zeigen
Communistische Anarchisten, anarchistische Kommunisten, Antideutsche hier, Antiimps dort, GSP Fanboys, Stalinos mit Streichholzärmchen, LSBTTIQ und Ultra CIS-Males und -Females saturierte Quitter, zynische Altpunks, liberale Appeaser, gelangweilte Hedonisten. Und wenn ich DICH jetzt vergessen habe, dann fühle dich ebenfalls erwähnt, getroffen und genannt.
Manche gehen nicht wählen, weil es „eh nichts bringt“, weil sie nicht für die Regierung verantwortlich sein wollen, weil sie sich lieber mit feistem Grinsen zurück lehnen und allen zeigen, dass sie es nicht nötig haben und über allem schweben. Andere wählen Kleinparteien, die ihnen gefühlt nahe stehen, oder Spaßparteien, die auch nichts reißen werden, aber man hat wenigstens gefühlt allen anderen, vor allem „ihnen“, den Mittelfinger gezeigt.
Rassistisch, antiemanzipatorisch, homophob
Diese Wahl ist anders als alle anderen. Denn das erste Mal seit der Gründung der BRD (ein paar nachkriegsbedingte Auswüchse außen vor gelassen) hat eine rassistische, antiemanzipatorische, homophobe, sozialdarwinistische, protofaschistische Partei mit einem Haufen faschistischer und nationalsozialistischer Kandidaten – und einer faschistischen und rassistischen Massenbasis – nicht nur die Chance, sondern die Gewissheit, in den Bundestag einzuziehen.
Dies bedeute mehr Geld für diese Partei, mehr Mulitiplikationsmöglichkeiten, mehr Chancen, ihren widerlichen Müll abzusondern und ihre Fußtruppen zu weiteren Gewaltexzessen zu ermutigen. Gleichzeitig haben die „bürgerlichen“ und „linken“ Parteien seit G 20 nichts Besseres zu tun, als auf die bösen Linksextremisten zu zeigen, von denen ja ach so viel Gefahr ausgeht.
Es dürfte längst wieder Listen für die Lager geben
Seriously, Genossen: „Wir“ Linksextremisten wissen alle, wie weit wir von einer Revolution, einer sozialen gar, entfernt sind. Von „uns“ droht keine Gefahr für die BRD, auch wenn rituelle Konflikte mit den Repressionsorganen manchmal kurz einen andern Eindruck erwecken. Uns, Generationen von Zivis, Totalverweigerern und Pazifisten, stehen Hunderte, wenn nicht tausende „zivile“ Rechte gegenüber mit Waffenerfahrung und Waffen. Die Zahl der Rechten in Polizei und Armee ist ungewiss und nur zu schätzen.
Eine Revolution kommt, in diesem Deutschland, wenn überhaupt nur von rechts. Und wir können davon ausgehen, dass unsere Namen und Adressen, die liebevoll über Jahre und Jahrzehnte vom Staat und seinen Repressionsorganen gesammelt wurden, schon längst von den Sympathisanten – wenn nicht Aktiven – der Rechten in den Behörden ausgeleitet wurden. Und dass die Listen für die Lager schon längst fertig sind.
Die AfD wird uns lange erhalten bleiben
Und nein, die AfD ist kein kurzfristiges Phänomen wie die REPs in den Achtzigern. Diese Partei erntet jetzt die Früchte eines schon seit Jahrzehnten laufenden Versuchs, die Gesellschaft zurück zu rollen in eine Zeit, in der der weiße, heterosexuelle Mann noch die Krone der Schöpfung und Herrscher über Weib, Kinder und alles Nichtdeutsche war. Hier steckt viel Geld dahinter, Intelligenz, Netzwerke in Politik, Lehre, Justiz, Militär, Diensten, Polizei und der Industrie.
Nein, die Flüchtlingskrise war kein Auslöser dieses Rechtsrucks. Nur ein Brandbeschleuniger dessen, was sich schon lange abgezeichnet hatte. Der gesamtgesellschaftliche Konsens wurde über die Jahre nach rechts verschoben. Neu ist, dass die Faschisten und Rassisten sich trauen, öffentlich das Maul aufzureißen, und dass Worten massiv Taten folgen.
Wolke aus Gefühlen und diffusen Ängsten
Dass ein Großteil derjenigen, die jetzt AfD wählen, als erstes Opfer von deren Politik werden, ist ihnen nicht zu vermitteln. Sie sind auch nicht durch Gespräche und Diskussionen zu erreichen. Sie sind in einer wabernden Wolke aus Gefühlen gefangen, die dominiert ist von diffusen Ängsten und unterdrückter Sexualität, wo man(n) es schafft, sich mit wollüstiger Erregung an Phantasien über das Verhalten der als überpotent empfunden Fremden zu erregen. Gleichzeitig stürzt man(n) sich dabei in Empörung über sexuelle Übergriffe gegen „seine“ Frauen einerseits und andererseits in sexuell bestimmte Gewalt- und Vernichtungsphantasien gegen Frauen, die als Gegner gesehen werden.
Wir stehen vor einer Zäsur. Wir müssen jetzt versuchen, den sicheren Einzug des politischen Arms der Faschisten wenn nicht zu verhindern, doch so klein wie möglich zu halten. Deshalb MÜSSEN wir wählen gehen und unsere Stimme einer Partei geben, mit der wir leben können.
Nicht zusehen, wie die Karre an die Wand fährt
Ja, mich widern alle Parteien an, die mit einer Chance bei dieser Wahl antreten. Zu gerne würde ich sehen, wie sich eine DiB schlagen würde, oder die langen Gesichter, wenn die Partei signifikant Stimmen bekäme. Oder einfach nicht wählen oder den Stimmzettel mit dem Circle-A versehen in der Tonne versenken
Aber nicht bei dieser Wahl. Nicht wie in den Dreißigern zusehen, wie die Karre an die Wand fährt! Als sich Kommunisten und Sozialdemokraten lieber gegenseitig bekämpften, den Schulterschluss in der antifaschistischen Aktion viel zu spät suchten.
Ich will lieber eine andere Welt
Ja – das Ergebnis der letzten Wahl, bei der ich so strategisch gewählt habe, ging granatenmässig schief. Sie hat uns Hartz IV und prekäre Beschäftigungsverhältnisse beschert und den ersten Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung seit dem 2. Weltkrieg. Ja, diese Politik hat mit das Potential geschaffen, aus dem die braune Brut sich speist. Soziale, angeblich sozialdemokratische Parteien haben es verlernt, sich um die zu kümmern die es am nötigsten haben.
Ich bin Babyboomer, weiß, heterosexuell, männlich, gut ausgebildet, verdiene ordentlich in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis. Ich würde profitieren von einer Politik, wie sie die AfD umsetzen würde. Aber ich will dies nicht, ich will eine andere Welt. Um Newtown Neurotis zu zitieren: „I don’t wanna be a rich man, I don’t wanna win the pools, I want wealth for all like health care jobs and schools.“
Den Anteil der AfD-Sitze im Bundestag senken
Meine Stimme muss an eine Partei gehen, die in den Bundestag einzieht. Denn nur deren Stimmanteile senken den Anteil der AfD-Sitze im Bundestag. Ich habe mich entscheiden, gegen meine Überzeugung und mit massivem Bauchgrimmen zur Wahl zu gehen und meine Stimme der Linken zu geben.
Ja, ich weiß. Ich habe in den letzten Monaten massiv gegen diese Partei angeschrieben. Sahra Wagenknecht ist aus meiner Sicht eine linkspopulistische Nationalbolschewistin und mir ein Graus. Den antisemitischen „Israelkritikern“ in der Partei würde ich liebend gerne mit Woody Allens Wahl eines Sportgeräts Verstand beibringen. Da schwärmen manche Linke für das klerikal-faschistische Russland Putins gepaart mit dumpfem Antiamerikanismus. Das findet sich genauso bei der AfD.
Die Linke wird die soziale Frage von links stellen
Wie es aussieht, ist die Linke die einzige Partei, die im nächsten Bundestag soziale Fragen von „links“ stellen wird, um die kommende Regierung vor sich her zu treiben. Sie wird hoffentlich nicht in der Position sein, ihre krude außenpolitische Weltsicht umzusetzen. Nein, ich kann nicht guten Gewissens dazu aufrufen, die Linke zu wählen. Aber aus den oben aufgeführten Überlegungen tue ich es.
Und für Euch alle gilt: Geht zur Wahl, und überredet fünf, ach was, zehn, mehr Nichtwähler aus euren Familien und Freundeskreisen zur Wahl zu gehen. 15 Minuten an einem Sonntag, die nicht weh tun.
Folge uns!