Von Angela Berger – Besigheim. Im Wartesaal des Besigheimer Bahnhofs fanden sich am Abend des 9. November, des Jahrestags der Pogromnacht, etwa 70 Personen ein, um den Vortrag „Wendepunkt 1938“ des Publizisten Steffen Pross zu hören. Seit der Gründung des Vereins „Wartesaal“ 2009 finden dort regelmäßig Veranstaltungen statt. Mit Jazzkonzerten, Vorträgen, Theaterstücken und Ausstellungen hat sich die Kleinkunstbühne in den ehemals ungenutzten Räumen etabliert.
Das erste Buch von Steffen Pross „Freudental 1938 – Eine Ermittlung“ erschien 2009. In den sechs Kapiteln lässt der Autor in Zeitungsausschnitten, Briefen, Fotografien, Gesprächen, aber auch Vernehmungsakten der Spruchkammer und deren Urteilen ganz tief in ein kleines Dorf schauen. Ein sehr bedrückendes Bild, wie in diesem kleinen Dorf in der Nähe von Bietigheim das jüdische Leben nach und nach vom Nationalsozialismus zerstört wurde. Geprägt von Angst war diese Zeit der Entsolidarisierung damals. „Freudental 1938“ beschreibt ein Stück Heimatgeschichte ohne die sentimentale Illusion, die Dörfer wären für die verfolgten Juden weniger gefährlich gewesen als die Städte.
Anders als in den Städten konnte man sich dort auch nicht anonym in der Masse an Menschen verstecken. Pross schreibt in seinem Buch, dass in den ersten Jahren die ansässigen Juden noch nicht glaubten das der Nationalsozialismus für sie eine Gefahr war. Doch schon 1933 wurde dem Lehrer Simon Meisner von dem damaligen „Hauptlehrer“ Ludwig Bauer, der später der Ortsgruppenleiter der NSDAP wurde, die Hospitanz in der Schule verweigert – mit der Begründung er sei Jude.
Die Gefahr zeichnete sich erst mit der Zeit ab. Beispielsweise durch die Hetze der nationalsozialistischen Presse, die etwa 1934 begann. Täglich wurde in den Zeitungen namentlich denunziert. Hinzu kam die wirtschaftliche Verschlechterung für die Bauern und Viehhändler durch den Entzug beziehungsweise verweigerte Erneuerung der Viehhandelskonzessionen mit der Begründung, den Juden fehle es an der „charakterlichen Eignung“ für den Viehhandel.
1934 begannen auch die Geschäftsboykotte in der Region. Der Bietigheimer Roßmarkt war 1935 der erste Roßmarkt ohne jüdische Händler. Die NS-Rundschau schrieb am 3. September 1935: „… Bietigheim hat das Verdienst, den ersten Pferdemarkt ohne Juden abgehalten zu haben. Im nächsten Jahr wird sich das zweifelslos überall eingeführt haben …“
1937 immigrierten dann doch die ersten Kinder in die USA. Doch die Mehrzahl der jüdischen Gemeinde blieb zunächst noch in Freudental. Es kam nach und nach auch zu körperlichen Übergriffen und Denunziationen innerhalb des Dorfes. Die Propagandamaschinerie funktionierte schließlich bis in kleinste Gemeinden. Hetze und Gewalt überzog auch das kleine Dorf im Schwäbischen.
Als in der Nacht des 9. November 1938 die Order an die Staatspolizei ging, die Pogrome zu beginnen, verschliefen die Ludwigsburger Nazis den telefonischen Befehl. Aber schon am nächsten Tag, am 10. November 1938, zündeten sie die Ludwigsburger Synagoge an und brachen gleich danach nach Freundental auf, um ihrem gerade erst zum NS- Ortsgruppenleiter ernannten Hauptlehrer Ludwig Bauer dabei zu helfen, die dortige Synagoge niederzubrennen.
Nur weil das Dorf so eng bebaut war, dass sie fürchten mussten, es könnten auch „arische Häuser“ niederbrennen, wurde die Synagoge nicht angezündet. Dafür wurde in ihrem Inneren alles zerschlagen. 13 Thora-Rollen und jüdische Gebetbücher, Möbel, Gewänder – alles wurde auf ein Feldstück am Ende des Ortes gebracht und angezündet.
“ … Bauer beauftragte Emil Oe, eine Kanne Benzin herbei zu schaffen. Wir Juden wurden geschlossen vom Synagogenplatze geführt, Moritz Herrmann, der gerade vom Feld heimkam, wurde von seinem Fuhrwerk gezerrt und musste sich als Jude dem Zug anschließen. Bauer führte den Zug an. Ich selbst war in der ersten Reihe der Juden und neben mir ein Verbrecher aus Ludwigsburg, eine Holzaxt in der Hand haltend. Das Benzin wurde über den Haufen geleert und wir 6 Juden mussten direkt um das Feuer herum knien vielleicht für 1,5 Stunden bis alles verbrannt war, wie es uns zu Mute war, das werde ich ihnen nicht schildern brauchen. Herauf wurden wir geschlossen auf das Rathaus geführt, mussten auf die Staffel hinauf gehen und schreien: ‚Wir Juden sind alle Verbrecher und müssen zum Teufel gejagt werden.“
Beim Lesen des Buches wird man in die Zeit zurückversetzt und erlebt die Geschichte sehr lebendig. Die nüchternen, informellen Anmerkungen zwischen den Originaltexten machen das Ganze noch bedrückender. Lebendig und zugleich erdrückend bleiben die Erinnerungen an das Schicksal dieser Menschen durch die mittlerweile vier Bücher von Steffen Pross.
Ein weiteres Buch ist bereits in Arbeit.
Die Ehemalige Synagoge ist zu einem Ort der Begegnung, des Gedenkens und Lernens geworden, dort ist auch Steffen Pross aktiv.
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