Von Andreas Scheffel – Luxemburg. Um sich vor Terror, Folter oder staatlicher Verfolgung in Sicherheit zu bringen, bleiben Schutzbedürftige bis auf weiteres auf die Dienste krimineller Schlepper angewiesen. EU-Staaten müssen in ihren Auslandsbotschaften keine sogenannten humanitären Visa ausstellen. Es stehe den Mitgliedsstaaten frei, nach nationalem Recht ihre Einreisevisa zu vergeben, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), am Dienstag, 7. März, in Luxemburg. Aus dem Europäischem Unionsrecht ließen sich keine Verpflichtungen ableiten, argumentierten die Richter.
Damit bleibt die von Menschenrechtsorganisationen seit Jahren kritisierte Praxis erhalten, wonach etwa Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien kaum eine Chance haben, legal in die EU einzureisen.
Der Generalanwalt am EU-Gericht, Paolo Mengozzi, sieht das anders. Jedes EU-Land sei beim Erteilen von Visa an die Grundrechte-Charta gebunden – unabhängig davon, woher der Antragsteller kommt. Das erklärte Mengozzi in seinem Schlussantrag schon Anfang Februar vor dem Gericht. „Die syrische Familie hat zudem genug Beweise dafür geliefert, dass sie in Aleppo/Syrien in großer Gefahr schwebt“, ergänzte er.
EU muss legale Einreisewege schaffen
Bei dem Urteil ging es um eine christlich-orthodoxe Familie aus Aleppo. Die Eltern und ihre drei Kinder hatten in der belgischen Botschaft in Beirut ein für 90 Tage geltendes humanitäres Visum beantragt, um in Belgien einen Asylantrag stellen zu können. Der Familienvater erklärte, er sei in Syrien bereits von einer bewaffneten Gruppe entführt und gefoltert worden, bis er gegen Lösegeld freikam. Wegen ihres christlichen Glaubens drohe der Familie weitere Verfolgung.
Der Viernheimer Historiker Sean McGinley, Sprecher und Geschäftsführer des Landesflüchtlingsrats in Stuttgart, hatte mit diesem Ausgang des Verfahrens gerechnet. Wie ProAsyl kritisierte er die Entscheidung, die eine Verschärfung statt Entschärfung der Situation Geflüchteter bedeute. McGinley forderte die EU auf, legale Einreisewege zu schaffen, um das Leben von Flüchtlingen aus Kriegsländern, die vor Folter und Vertreibung fliegen, zu schützen. Die Europäische Union dürfe sich nicht weiter abschotten.
Asyl nur für 90 Tage gültig
Die Richter am Europäische Gerichtshof entschieden jedoch, dass das von der syrischen Familie geltend gemachte Recht auf Visa aus humanitären Gründen nur für 90 Tage gelte. Sie habe ihre Anträge auf Visa jedoch in der Absicht gestellt, in Belgien Asyl zu beantragen und somit klargemacht, länger als 90 Tage bleiben zu wollen.
Ein Feiertag für die Schlepper
Damit bleibt die von Menschenrechtsorganisationen seit Jahren kritisierte Praxis erhalten, wonach etwa Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien kaum eine Chance haben, legal in die EU einzureisen. Um sich vor Terror, Folter oder staatlicher Verfolgung in Sicherheit zu bringen, bleiben Schutzbedürftige bis auf weiteres auf die Dienste krimineller Schlepper angewiesen. Einzige legale Alternativen sind offizielle Flüchtlingskontingente wie das Umsiedlungsprogramm der EU – oder ein Platz in einem UN-Flüchtlingslager in der Nähe eines Krisengebiets in einem der zerrütteten Nachbarländer.
Kommentar:
Das Problem heißt Rassismus, und es ist hausgemacht!
Die Europäische Union und deren Richter stärken weiter das rechte Lager, statt Menschen vor Krieg, Flucht und Folter zu schützen. Statt die Festung Europa mit ihren errichteten Mauern einzureißen und ein wichtiges Signal zur Stärkung der Grundrechte eines jeden Menschen zu senden, zwingen die EU-Richter Flüchtlinge weiterhin dazu, illegale Wege auf sich zu nehmen, um nach Europa zu gelangen. Wege, die oft mit Misshandlungen, Folter und Sterben einhergehen.
Die Richter am Europäische Gerichtshof in Luxemburg hätten sich besser daran erinnern sollen, was einmal die Essenz des europäischen Projekts ausgemacht hat. Ursprünglich sollte es auch um Flüchtlingsschutz, Menschenwürde, das Recht auf Leben, das Verbot unmenschlicher Behandlung, das Verbot der Folter, um den Schutz des Kindeswohls gehen. Jedoch ticken die Richter am EuGH offenbar anders.
Das Sterben an den Grenzen muss ein Ende haben
Die Menschen hierzulande müssen mehr für andere Menschen einstehen und für legale und gefahrenfreie Wege für Schutzsuchende kämpfen, um das Sterben vor Europas Grenzen zu beenden. Dazu gehören unter anderem humanitäre Visa, großzügige Resettlement-Programme, ein leichterer Familiennachzug, aber auch eine andere Migrationspolitik.
In Deutschland werden täglich zehn fremdenfeindliche Straftaten begangen. Attacken auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte sind mittlerweile nur noch Randnotizen in den Medien. Als kürzlich die neuesten Übergriff-Zahlen veröffentlicht wurden, bleib der dringend nötige Aufschrei aus. Umso wichtiger wäre es, dass die Zivilgesellschaft nun deutliche Zeichen setzt.
Jeden Tag werden Menschen zu Opfern
Mehr als 3500 größtenteils rechtsextrem motivierte Angriffe auf Geflüchtete, Flüchtlingsunterkünfte oder Flüchtlingshelfer und Journalisten – das ist die traurige Bilanz des Jahres 2016, wie aus einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag hervorgeht. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein, da nicht jeder Fall den Behörden bekannt wird.
Jeden Tag werden in Deutschland Menschen Opfer rassistischer und fremdenfeindlich motivierter Angriffe. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr nach Angaben des Bundesinnenministeriums 560 Menschen bei diesen Taten verletzt, darunter 43 Kinder. Hinzu kommt, dass immer häufiger Hilfsorganisationen oder ehrenamtliche Flüchtlingshelfer zum Ziel von Attacken werden. Das Ministerium spricht von 217 Fällen. Auch hier dürfte die tatsächliche Zahl noch weitaus höher sein, da nicht immer die Polizei informiert wird.
Wir brauchen uns nicht zu wundern
So manche Politiker von CDU, Grünen und SPD brauchen sich darüber nicht zu wundern. Immer mehr findet Anti-Flüchtlings-Rhetorik Eingang in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs, immer mehr Verantwortungsträger befeuern fremdenfeindliche Ressentiments und stehen vermehrt für Abschiebungspraktiken.
Viele BürgerInnen sprechen und beschweren sich über „die Politik“. Aber viele betrügen sich selbst, indem sie nicht wählen gehen, um an den Wahlurnen für mehr Menschlichkeit in der Politik einzutreten. Sie ziehen es vor zu feiern, es sich zuhause gemütlich zu machen oder in Urlaub zu fahren. Ob es wohl bei der Bundestagswahl den nötigen Aufschrei aus der Gesellschaft geben wird?
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