Von unseren ReporterInnen und der Redaktion – Stuttgart. Die Menschen waren aufgewühlt, viele wütend, manche weinten. Tausende KurdInnen, Linke und AntifaschistInnen gingen am Samstag, 10. Oktober, nach den Bombenattentaten in Ankara spontan auf die Straße, um der Toten zu gedenken und gegen den Terror in der Türkei zu protestieren. Nach offiziellen Angaben starben bei dem Anschlag 97 Menschen und 500 wurden verletzt. Die pro-kurdische HDP berichtet von noch viel mehr Opfern.
Etwa 7000 Menschen versammelten sich nach unserer Zählung allein in Stuttgart. Die Polizei sprach uns gegenüber von 6000. Demonstrationen gab es auch in Mannheim, Karlsruhe, Frankfurt oder Ulm. Viele TeilnehmerInnen vermuteten, die türkische Regierung selbst oder ihr Geheimdienst seien Drahtzieher der Anschläge.
In Stuttgart kamen am frühen Abend zunächst etwa 400 Menschen auf dem Schlossplatz zusammen. Eine halbe Stunde nach Beginn war die Menge bereits doppelt so groß. Ursprünglich war nur eine Kundgebung geplant. Doch dann bildete sich eine Spontandemonstration durch die Innenstadt, der sich immer mehr Menschen anschlossen.
Hänsel: Erdogan soll die Verantwortlichen nennen
Die Stimmung auf dem Schlossplatz war kämpferisch. Es gab mehrere Reden. Auch die Bundestagsabgeordnete der Linken Heike Hänsel sprach. Sie hatte erst vor kurzem bei einer Wahlkampfveranstaltung des Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas in Ludwigsburg eine Ansprache gehalten (siehe „Großer Bahnhof für Demirtas„).
Nun zeigte sich Hänsel in Stuttgart bestürzt und schockiert über den „feigen Mordanschlag“ in Ankara. Sie wolle, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan „endlich sagt, wer verantwortlich ist“. Er wolle die Wahlen am 1. November durch Terror und Einschüchterung verhindern. Das Verbrechen unterstreiche, dass die Türkei kein „sicheres Hinterland“ ist, warnte die Abgeordnete die EU und Deutschland vor einer „Kumpanei mit Erdogan“. Stattdessen müssten in der Türkei friedliche und demokratische Kräfte wie die HDP gestärkt werden. Hänsel: „Dazu gehört Erdogan nicht.“
Aufgeheizte Stimmung am Rotebühlplatz
Die Abgeordnete stand auch am Fronttransparent, bei der anschließenden Demonstration. Sie zog zum Marktplatz, dann zum Rotebühlplatz. Dort gab es einen Zwischenfall. Der Wirt eines ansässigen Imbisses soll Gerüchten zufolge zur Islamistenszene gehören. Es flogen Flaschen und andere Gegenstände in Richtung des Döner-Ladens. Die Polizei, obwohl von Anfang an behelmt, wirkte überfordert. Als Ordner zwischen die Streitparteien gingen, beruhigte sich die Lage von selbst. Wir beobachteten zwei Festnahmen.
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Ohne weitere Zwischenfälle zog die mittlerweile beträchtlich angeschwollene Demonstration über die Theodor-Heuss-Straße und den Palast der Republik zurück zum Schloßplatz, wo es eine Abschlusskundgebung gab.
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Auseinandersetzungen mit türkischen Nationalisten in Ulm
Etwa 250 bis 300 Menschen, später bis zu 800 Menschen versammelten sich in Ulm am Berblinger Brunnen zum spontanen Protest gegen den Terror in Ankara. Ihre Demonstration wurde von vier bis fünf Polizeifahrzeugen begleitet. Die Ansprachen wurden teils auf Türkisch, teils auf Deutsch gehalten. Gegen Ende der Veranstaltung gab es Auseinandersetzungen mit türkischen Nationalisten und mindestens zwei Festnahmen. Die Rangeleien sollen von sechs Beteiligten ausgegangen sein.
Vor Beginn versuchte eine Person zu provozieren. Als sie zur Rede gestellt wurde, gab sie an, von einem älteren Mann dafür Geld bekommen zu haben. Auch während der Demonstration gab es eine Provokation. Ihr Urheber, ein stark alkoholisierter Mann, wirkte jedoch vor allem verwirrt.
Spontaner Protest auch in Frankfurt
Kurz entschlossen marschierten auch mehrere hunderte kurdische Aktivisten auf den Straßen von Frankfurt, um der Opfer des Bombenanschlags in Ankara zu gedenken. Aktivisten riefen auf der Demoroute „Erdogan Diktator, Erdogan ist ein Mörder, nieder mit der AKP“.
In Heidenheim hielt die Polizei die Lager auf Abstand
Unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse standen auch zwei schon länger geplante Demonstrationen an diesem Tag in Heidenheim. Laut Ordnungsamt versammelten sich in der Stadt 100 türkische Nationalisten. Ihnen traten um die Mittagszeit zunächst 280, später mehr überwiegend kurdische und linke Demonstrantinnen entgegen. Allerdings hielt die Polizei die beiden Gruppen nach eigenen Angaben auf rund zwei Kilometer Abstand.
Das Attentat in Ankara und die früheren Anschläge waren auch Thema der Reden bei der antifaschistischen Demonstration. Unter anderem sprachen Vertreter der Antifaschistischen Initiative Ostalb und des Göppinger Solidaritätsbündnisses für Rojava.
Die Abschlusskundgebung wurde von einem älteren Herrn gestört. Er erklärte lautstark, er habe das selbe Recht, da zu stehen. Ein Vertreter des Ordnungsamts sagte uns, er habe ihm einen Platzverweis erteilt.
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Die Rede der Antifaschistischen Initiative Ostalb im Wortlaut:
„Liebe Menschen, Genossinnen und Genossen,
ich spreche hier und heute zu Ihnen im Namen der antifaschistischen Initiativen der Region Ostalb. Wir alle haben uns hier und heute versammelt um ein deutliches Zeichen zu setzen. Ein Zeichen gegen die unsäglichen Zustände, die aktuell in der Türkei, in Syrien und im Irak herrschen und unter denen das kurdische Volk mit vielen hunderten Toten leiden muss. Ein Zeichen gegen die Politik der AKP unter dem Despoten Erdogan, dessen imperialistischer Größenwahn diese Krise, diesen Krieg, diesen Staatsterror forcieren bzw. diesen ausübt. Ein Zeichen gegen Die Regierungen der europäischen Staaten, die diese Form der Tyrannei dulden und durch die Verbundenheit mit der Türkei als wichtiger NATO-Staat, dies sogar unterstützen. Ein Zeichen zu guter letzt auch gegen die Faschisten, die sich heute hier in Heidenheim produzieren und die genannten Zustände gar glorifizieren.
In der jüngsten Vergangenheit verschärfte sich die Situation in der Türkei dramatisch. Parteizentralen der HDP werden landesweit angegriffen, ja meist sogar mit Brandsätzen angegriffen. Unterdessen formieren sich faschistische und nationalistische Banden, die Angst und Schrecken unter den kurdischen Menschen verbreiten. Sie ziehen durch die Straßen und greifen pogromartig kurdische Geschäfte und Menschen kurdischer Herkunft an. Gegen 400 HDP Büros der HDP wurden allein in den vergangenen zwei Tagen Anschläge verübt. In Istanbul wurde ein junger Mann sogar ermordet, weil er in der Öffentlichkeit auf Kurdisch telefonierte.
Der kurdisch-türkische Konflikt hält schon seit der Gründung des türkischen Staates an, jedoch wurde er in in der jüngeren Vergangenheit besonders durch viele Zugeständnisse und einseitige Diplomatiebemühungen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und der HDP, augenscheinlich entspannter. Aber jetzt leben Menschen erneut in Furcht.
Das Attentat von Suruç zeichnete den Beginn einer Reihe von Massakern an der kurdischen Bevölkerung im östlichen Teil der Türkei. Die Stadt Cizre ist vollständig vom Militär belagert und es herrscht eine Ausgangssperre für die gesamte Bevölkerung. Das Militär greift brutalst gegen Menschen, die sich der staatlichen Unterdrückung nicht fügen wollen, durch, wie in der Nacht, vom 10. zum 11. September, als es 20 getötete Menschen gab.
Als sich vergangene Woche eine Delegation von HDP-Abgeordneten auf den Weg nach Cizre macht, wurden ihre Busse von der Polizei gestoppt. Als sie sich zu Fuß weiter auf den Weg machten, griff die Polizei die Gruppe mehrmals an.
Erdogan und die AKP, die ihm als Steigbügelhalter für sein größenwahnsinnige Pläne e dient, kommen der Hass auf kurdische Menschen und in den kurdischen Gebieten außerhalb der Türkei sehr gelegen, um die HDP zu delegitimieren, sie gar zu verbieten und sich selbst als „stabilisierenden Faktor“ zu präsentieren.
Erdogan produziert eine Politik der Spannung, um seine bei den letzten Wahlen gescheiterte Präsidialverfassung erneut durchzupeitschen. Es zeigt sich jeden Tag auf’s Neue, wie diktatorisch und faschistisch sich der Charakter der Regierung Erdogan entwickelt und wie der Konflikt zwischen türkischen und kurdischen Menschen angeheizt wird.
Es ist unsere Aufgabe – ja unser Wille – hier und heute ein deutliches Zeichen der Solidarität zu setzen und den Kurdinnen und Kurden, die unter der vorherrschenden Gewalt in der Türkei, in Syrien und im Irak leiden müssen, zu signalisieren, dass wir ihre Hilfeschreie hören, dass wir hier die Stellung für sie halten und dass wir weder die Haltung der Deutschen Regierung, weder die Haltung der restlichen EU-Staaten, weder die Haltung des höchst kriminellen NATO-Bündnisses, noch die Haltung der faschistischen grauen Wölfe, die sich heute hier in Heidenheim eingefunden haben, tolerieren. Nein, dass wir alles menschenmögliche unternehmen um unseren Beitrag zum antiimperialistischen Kampf beisteuern können.
Hoch die internationale Solidarität!
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Das Grußwort für das Göppinger Solidaritätsbündnis für Rojava:
„Ich bin heute von Göppingen nach Heidenheim gekommen, um euch solidarische Grußworte vom Göppinger Solidaritätsbündnis für Rojava zu überbringen. Wie ihr heute hier zu dieser Demo haben wir uns vor über einem Jahr zusammengeschlossen. Wir sind ein Bündnis unterschiedlichster Organisationen. Bei uns arbeiten zum Beispiel die Antifaschistische Gruppe Göppingen, Alevitische Gemeinde, Frauenverband Courage, DIDF, European Syriac Union, Freundeskreis Asyl, kurdische Vereine, Migrantinnenverein, MLPD und Linksjugend Solid gemeinsam, solidarisch und kameradschaftlich gemeinschaftlich mit.
Wir unterstützen Rojava und den Wiederaufbau von Kobane und kämpfen wir Freiheit und Solidarität Wir fordern:
1. Die Öffnung der türkischen Grenze nach Nordsyrien zur Schaffung eines Korridors für humanitäre Hilfe für Rojava. Wir fordern die Bundesregierung auf in diesem Sinne auf den NATO Bündnispartner Türkei einzuwirken.
2. Ihr selbst könnt im Internet auf OpenPetition diese Forderung unterschreiben. Dafür sind schon zehntausende Unterschriften gesammelt worden, die Ende November der deutschen und der türkischen Regierung übergeben werden.
3. Den Wiederaufbau von Kobane, damit die Flüchtlinge dorthin zurück kehren können und so weiter an ihrem fortschrittlichen Projekt arbeiten können.
4. Die Anerkennung von Rojava statt einer Pufferzone mit rechten Milizen der Türkei zwischen den Kantonen Afrin und Kobane und damit das Ende des Embargos durch die Nachbarländer.
Schlußendlich bedeutet die Freiheit der Völker auch die Freiheit aller Unterdrückten und Ausgebeuteten! Hoch die internationale Solidarität!“
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