Stuttgart. Vom ursprünglichen Vorwurf der Beleidigung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und der versuchten Körperverletzung blieb nur die Beleidigung übrig – es soll das Wort „Arschloch“ gefallen sein. Von wem diese Beleidigung stammt, blieb weitgehend im Dunkeln. Darüber hinaus gab ein Polizeibeamter zu, dass Vermerke in den Aussagen unter den Polizisten abgeglichen und besprochen wurden. Das sei durchaus so üblich, erklärte ein weiterer Polizist als Zeuge. Für Richter Schöttler war das allerdings kein Grund, die Glaubhaftigkeit der Beamten anzuzweifeln. Er schlug letztlich vor, alle Anklagepunkte fallen zu lassen, wenn die Beschuldigte den Einspruch gegen den Strafbefehl zurücknimmt, was die Beleidigung angeht, und die Prozessbeteiligten zustimmen. Die 26-jährige teilzeitbeschäftigte Krankenpflegerin nahm auf Rat ihres Verteidigers Ullrich Hahn den Vorschlag des Gerichts aus finanziellen Gründen an. Staatsanwältin Hörrmann hatte keinerlei Bedenken gegen den „Deal“. Für die Angeklagte endete die Verhandlung am 20. November 2014 vor dem Stuttgarter Amtsgericht mit einer Geldstrafe von 300 Euro.
Rückblick
Die TeilnehmerInnen der „Revolutionären 1. Mai-Demonstration 2013“ liefen auf der angemeldeten Strecke, sollen sich aber nicht an alle Auflagen gehalten haben. Es war die Rede von verknoteten Transparenten, bengalischem Feuer, von einem Kopf-über-Transparent und von einem „Sprint“ der DemoteilnehmerInnen. Diesen Sprint stoppte eine martialisch ausgestattete Polizeitruppe. Bei den Auseinandersetzungen, bei der die Polizei Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzte, wurden mehrere DemonstrationsteilnehmerInnen verletzt. Sanitäter, die auf der Demo im Einsatz waren, berichteten von bis zu 20 Verletzten. Mehrere von ihnen mussten das Krankenhaus aufsuchen. Der Sprecher des Stuttgarter Bündnisses für Versammlungsfreiheit, Thomas Trüten, der vor Ort war, berichtete nach der Demonstration: „Bei diesem Angriff durch die Polizei war keine Zielsetzung zu erkennen. Vollkommen willkürlich wurde in die Menschenmenge geschlagen.“
Verhandlung
Der Staatsschützer
Ein Kripobeamter des Staatsschutzes Stuttgart sagte als Zeuge, ein Polizist sei von zwei Demonstranten beleidigt und von einem Demonstranten geschlagen worden. Das habe er von einem Polizisten erfahren. Er selbst sei nicht vor Ort gewesen. Der Kripo-Mann erklärte, er sei beauftragt gewesen, das Videomaterial der Polizei zu sichten. Als das Gericht die Videos ansah, waren die vorgeworfenen Schläge nicht zu sehen und die angeblichen Beleidigungen nicht zu hören.
„Offiziell hatten sie das Recht da zu laufen, aber wir sagten, wir legen da erst mal ne Bremse ein“
Der zweite Polizeizeuge (Truppführer) berichtete, er habe versucht, das Fronttransparent nach unter zu ziehen, damit der Kameramann der Polizei die Leute abfilmen kann. Dies habe er getan, weil zuvor „Wichser und Arschloch“ geschrien wurde. Bei dieser Tätigkeit habe er einen Schlag auf den Arm verspürt. Der Schlag sei aus der Menge hinter dem Transparent gekommen. „Nix schlimmes, aber gespürt“, gab er an. Auf Nachfrage des Richters erklärte er, nicht sagen zu können, ob die Angeklagte die Täterin war. Aber vermutlich sei die Beleidigung von ihr gekommen.
Er will das alles eher ein bisschen belächelt haben und erklärte hierzu: „Vielleicht hat die Teilnehmer das provoziert.“ Im weiteren Verlauf gab er an, es sei „die dunkelhaarige Dame gewesen“. Es konnte nicht ausschließen, dass es eine andere Person gewesen ein könnte, aber vermutlich seien die Beleidigungen von ihr gekommen. Die Demonstranten hätten keinen Grund gehabt, so zu schreien. „Offiziell hatten sie das Recht da zu laufen, aber wir sagten, wir legen da erst mal ne Bremse ein“, gab er zu Protokoll. Auf weitere Fragen des Gerichts gab er an, dass sich die Polizeibeamten untereinander über ihre Angaben abstimmten. Es würden Abgleichungen durchgeführt. Es solle ja schließlich alles zusammenpassen.
„Es wird immer abgeglichen“
Richter Schöttler fragte den Zeugen nach den Gründen für eine Abgleichung der Berichte. Der Polizist antwortete ausweichend: „Es wird immer abgeglichen. Die Wahrheit wird nicht verfälscht.“ Es handle sich um eine Formsache. „Ich könnte ihnen auch sagen, jeder schreibt seinen Bericht. Aber nein!.“ Wenn ein Beamter in seinem Bericht was vergessen hätte, zum Beispiel dass die Menge gerannt sei, dann werde das korrigiert.
„Habe es so geschrieben, wie ich es erlebt habe“
Beim dritten Zeugen handelte es sich um einen 29-jährigen Polizeibeamten, der den Befehl erhielt: „Straße dicht machen“. Er sei in vorderster Front gewesen und habe Beleidigungen aus der Menge heraus gehört. Er habe zwar seinen Kollegen nicht gesehen, aber Schläge auf einen Arm eines Polizisten wahrgenommen. Er will auch die schlagende weibliche Person gesehen haben. Es sei eine Frau vor dem Banner gewesen. An die Haarfarbe der Frau könne er sich nicht mehr erinnern.
Er habe erst am 7. Juni 2013, also über einen Minat später, seinen Vermerk geschrieben, nachdem er dazu aufgefordert worden war. Richter: „Haben sie sich am Vermerk ihres Kollegen orientiert?“ – „Nee, ich habe es so geschrieben, wie ich es erlebt habe.“ Im weiteren Verlauf gab er an, dass es schon Vorlagen für Vermerke gebe. Der Bericht seines Kollegen habe ihm aber nicht vorgelegen. Er habe die Lage lediglich gleich eingeschätzt und nicht abgeschrieben. Zur Tatsache, dass 80 Prozent der Situationsbeschreibung identisch waren, merkte Rechtsanwalt Ullrich Hahn an: „Dann kann er es nur diktiert haben.“ Richter Schöttler: „Wortlaut und Inhalt sind gleich. Das kann man jetzt über fünf Absätze machen. Immer gleich!“.
Polizisten haben alles untereinander abgesprochen und abgeschriebenen
Schließlich gab der Polizist zu, dass untereinander abgesprochen und abgeschriebenen wird. „Ja, es gab eine Vermerkvorlage. Weiß nicht, von wem das ist.“ – Die Frage des Richters, ob es im Computer diese Vermerkvorlage gibt, die aufgerufen wird, wenn man seinen eigenen Vermerk anfertigt, antwortete er mit „Ja“.
„Vorläufige Einschätzung“ des Gerichts
Die Berichte seien zwar teilweise abgeschrieben worden, aber die Glaubhaftigkeit bleibe davon unberührt. Die Beleidigung „Arschloch“ könne der Angeklagten zugeordnet werden. Bei der Widerstandshandlung und dem Schlag sei es eher schwierig. Richter Schöttler regte an, alle Anklagepunkte fallen zu lassen, wenn die Beschuldigte den Einspruch gegen den Strafbefehl in Bezug auf die Beleidigung zurücknimmt und die Prozessbeteiligten ihre Zustimmung hierzu erteilen.
Der Deal
Die 26jährige teilzeitbeschäftigte Krankenpflegerin folgte dem Rat ihres Verteidigers Ullrich Hahn und stimmte aus finanziellen Gründen dem Vorschlag zu. Staatsanwältin Hörrmann hatte keinerlei Bedenken gegen den „Deal“. Für die Angeklagte endete die Verhandlung mit einer Geldstrafe von 300 Euro.
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Kommentar von Ferry Ungar:
Was ist das für eine Polizei – und was ist das für eine Justiz?
Da beteiligte sich eine junge Frau an einer Demonstration zum 1. Mai. Eine Demonstration, die auf der angemeldeten Strecke verläuft. Die DemonstrantInnen sind laut, rennen angeblich sogar. Schwere Vergehen gegen die öffentliche Ordnung? Weit gefehlt. Aber: Ein paar Polizisten gefällt das alles nicht.
Ein Polizeiführer spielt seine Macht aus: Er lässt den Demonstrationszug mit Gewalt stoppen. Das geschieht ohne zwingenden Grund. So nach dem Motto: „Warum leckt sich der Hund am Schwanz? Weil er kann!“.
Rund 20 DemonstrationsteilnehmerInnen erleiden Verletzungen. Teilweise erhebliche Verletzungen, die mit Schlagstöcken und Pfefferspay verursacht wurden. Ein Polizist will einen Schlag an seinem Arm „verspürt“ haben. Er „belächelt“ die 1. Mai-DemonstrantInnen und will dann beleidigt worden sein. Beleidigt mit den Worten „Wichser“ und „Arschloch“.
Vor dem Gericht wird ein Polizeiverhalten offenbart, das mit einem Rechtsstaat unvereinbar ist. Die Polizisten stimmen all ihre Angaben untereinander ab. Sie geben an, dass sie das immer so machen. Der Richter nimmt das zur Kenntnis. Mehr nicht. Keine Konsequenzen daraus. Alles in Ordnung.
Wie bekommt man die „Kuh vom Eis“? Man schlägt einen Deal vor. Leider ging die Rechnung der Justiz auf. Richter froh, Staatsanwaltschaft froh. Rechtsanwalt froh. Nur die Angeklagte kann sich nicht wirklich freuen. Es gibt zwar keinerlei Beweise. Für absolut nichts gibt es Beweise. Sie aber muss zahlen! Die ungeheuerliche Polizeipraxis bleibt da, wo man sie haben will. Im Nebel der Justiz. Außer dem Vertreter der Beobachter News gab es im Saal keine PressevertreterInnen. Warum auch?!
Toller Staat! Tolle Justiz! Tolle Polizei! Tolle Presse!
Der Polizist ist weder ein „Wichser“, noch ein „Arschloch“. Der ist was ganz anderes!
Wie war das noch mit dem Fressen und dem Kotzen?
Man sieht sich… auf der Straße! 😉
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