Von Angela Berger – Korb. Den etwa 50 ZuhörerInnen im kleinen Vorraum der Remstalhalle in Korb stockte stellenweise der Atem. So lesen sich normalerweise Thriller nach Art von Hollywood und nicht Bücher, die im ruhigen Tübingen verlegt werden. Ein Teil der Korber SPD mit ihrem Vorsitzenden Jürgen Klotz hatte am 16. Oktober 2014 zu einer Lesung über das Buch „Geheimsache NSU“ eingeladen – der Abend lohnte sich. Am Tag darauf gab die Landtags-SPD ihren Widerstand gegen einen NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags auf.
Der Journalist Andreas Förster gab mit acht weiteren Autoren und einer Autorin im Verlag Klöpfer&Meyer im Mai 2014 ein sorgfältig recherchiertes und spannend geschriebenes Buch heraus. Darin fassten die Autoren ihre Beobachtungen beim NSU-Prozess in München und eigene Recherchen zusammen.
Am Donnerstagabend war Frank Brunner zusammen mit den Autoren Rainer Nübel und Thumilan Selvakumaran nach Korb gekommen. Die Moderation übernahm der Journalist Peter Schwarz. Gleich zu Beginn las Brunner aus dem Teil des Buches vor, der aus baden-württembergischer Sicht der spannendste ist: das Kapitel „Theresienwiese“, der Überfall auf die ermordete Polizistin Michèle Kiesewetter und ihren Kollegen, gilt als Schlüsselfall im NSU-Prozess.
Kurz bevor die Welt um ihn herum verschwindet, schaut Polizeimeister Martin Arnold noch einmal in den Rückspiegel. Deshalb sieht er ihn kommen, diesen Mann, der aus dem Schatten des Trafohäuschens tritt, neben dem er und seine Kollegin mit ihrem grün-silberenen 5-er BMW parken …
Ungeklärte Fragen ohne Ende
Brunner berichtete weiter, wie sehr ihm beim Lesen der Ermittlungsakten Unstimmigkeiten auffielen. Die Bundesanwaltschaft spricht von Zufallsopfern. Aber warum fahren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ausgerechnet nach Heilbronn und erschießen zufällig ausgerechnet Michèle Kiesewetter? Die Bundesanwaltschaft vermerkt am 22. Oktober 2012: „Ein eindeutiger Nachweis, dass zumindest Böhnhardt und Mundlos am Tattag in unmittelbarer Tatortnähe waren, konnte bislang nicht erbracht werden. Aber nur zwei Wochen später behauptet sie das Gegenteil. Nun sollen die Beiden doch die einzigen Täter gewesen sein.
Warum wird nicht den vielen Zeugenaussagen nachgegangen? Warum werden die Phantombilder nach Angaben eines bis dahin zuverlässigen V-Mannes, der ebenfalls in Heilbronn war, nicht veröffentlicht? Warum gibt es keine Zusammenarbeit mit dem FBI, das zur gleichen Zeit eine verdeckte Aktion in Heilbronn unternahm? Auch wurde in dem fast völlig zerstörten Haus des Terrortrios ein nahezu unversehrtes Bekennervideo gefunden, dazu die zwei Tatwaffen aus Heilbronn und eine blutverschmierte Jogginghose mit den Blutspuren von Michèle Kiesewetter – und das nach vier Jahren. Angeblich sollen sie als Trophäen aufbewahrt worden sein.
Merkwürdige Todesfälle von Zeugen
Der Tod des einstigen Top-V-Mannes Thomas R., der nach seiner Enttarnung in einer konspiratieven Wohnung am Stadtrand von Paderborn gelebt hatte, gibt einmal mehr Rätsel auf. Fünf Tage lang hatten die Kontaktleute beim Bundesamt für Verfassungschutz kein Lebenszeichen mehr von ihm empfangen. Als die zwei Mitarbeiter mit Hilfe eines Hausmeistes die von innen verschlossene Wohnung öffnen und ihn dort finden, kann nur noch der Tod festgestellt werden. Der Ex-Spitzel mit Tarnnamen „Corelli“ soll im Alter von 39 Jahren eines natürlichen Todes gestorben sein – an einem erhöhten Blutzuckerspiegel, hervorgerufen durch eine unentdeckte Diabetes.l
Auch der Fall Florian Heilig lässt viele Fragen offen. Im Sommer 2011 soll der junge Mann im Kreis seiner Kollegen erzählt haben, er wisse, wer die Polizistin in Heilbronn getötet hat. Die Schulleiterin der Krankenpflegeschule alarmierte die Polizei, worauf das LKA Heilig vernahm. Er sollte am 16. September 2013 erneut zur Aussage über den Mord in Heilbronn erscheinen. Kurz zuvor aber soll er sich auf dem Weg zum Landeskriminalamt – so die schon nach wenigen Stunden verbreitete offizielle Version – aus Liebeskummer das Leben genommen haben. Ausgerechnet durch einen Brand in seinem Wagen und ausgerechnet in Bad Cannstatt. Die Frage lautet: Wieso fesselt sich ein junger Mann in sein Auto, setzt es in Brand und wählt damit die wohl schmerzhafteste Selbstmordvariante? Auch seine Familie zweifelt diese Version an.
Auf der offiziellen Web-Seite der SPD kann man lesen:
„Minister Gall räumte ein, dass bei der Aufklärung des Heilbronner Polizistenmordes individuelle Fehlleistungen nicht von der Hand zu weisen seien – nicht nur der Einsatz verunreinigter Wattestäbchen und die Jagd nach einem Phantom. „Nach allem, was ich heute weiß, ist aber ein rechtsextremistischer Hintergrund bis November 2011 nicht zu erkennen gewesen“, hob er hervor.
NSU-Untersuchungsausschuss: Das Innenministerium mauerte
Reinhold Gall war einer derjenigen, die unbedingt verhindern wollten, dass es in Baden-Württemberg einen Untersuchungsausschuss gibt. In der Lesung und bei der anschließenden Diskussion war die nach den Gründen dafür eine der zentralen Fragen: Warum und vor allem wer möchte keinen Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex in Baden-Württemberg haben? Und warum stemmt sich gerade ein sozialdemokratischer Innenminister so dagegen? Erst am Tag nach der Lesung lenkte die SPD ein und gab ihre Verweigerungshaltung auf – offiziell wegen des Scheiterns der von vornherein vermaledeiten Enquete-Kommission des Landtags. Der Landtag soll nun doch einen NSU-Untersuchungsausschuss bilden, wie es die Grünen, Mitglieder der Untersuchungsausschüsse anderer Parlamente, beispielsweise die Linke oder die VVN – Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes schon lange gefordert hatten.
Denn es gibt eindeutige Verbindungen des NSU zu Baden-Württemberg, vor allem in den Ludwigsburger/Heilbronner Raum. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt besuchten in all den Jahren mehrfach Michael Ellinger, einen bekannten Gitarristen der Rechtsrockband namens „Noie Werte“. Er war Mitglied in der mittlerweile verbotenen Bewegung „Blood & Honour“ in Ludwigsburg. Sie ließen sich in dessen Partykeller und vor dem blühenden Barock fotografieren.
Schon auf der 1998 gefunden Adressenliste aus der Garage von Mundlos sind die Kontakte nach Baden-Württemberg vermerkt. Diese und viele andere Hinweise werfen so viele Fragen auf, dass die Diskussion, ob ein Untersuchungsausschuss nötig sei, eher lächerlich erscheint.
Ahnungslos in Sachen Ku-Klux-Klan
Bewegend war an dem Abend war auch die Frage, ob und wie die Untersuchungen wohl ausgefallen wären, wenn die Ermordeten keine ausländische Abstammung gehabt hätten. Ein weiteres Thema war der Sinn des Einsatzes von V-Leuten. V-Leute sind bekanntermaßen Leute aus der Szene, die für die Weitergabe von Informationen „eingekauft“ werden. Die Frage war und ist, wieviel Glauben man solchen Informationen überhaupt beimessen kann. Selten wird darüber berichtet, dass die meisten V-Leute verurteilte Straftäter sind – ebenso wenig über die geringen Strafen, mit denen V-Leute meistens nach Straftaten davonkommen.
Der Mitautor Selvakumaran sagte dazu: „Nur weil sie V-Leute sind und Geld von Staat bekommen, haben sie ja nicht plötzlich auch eine andere Meinung“. Insgesamt spricht man von sechsstelligen Euro-Beträgen, die geflossen sein sollen, beantwortet Nübel eine Frage aus dem Publikum – Steuergeld, mit dem der Rechtsextremismus unterstützt wurde.
Die beiden Polizisten und Kollegen von Michèle Kiesewetter Jörg W. und Timo H. sind immer noch im Dienst. Außer einer Rüge gab es für sie keine Konsequenzen aus der Mitgliedschaft im Geheimbund Ku-Klux-Klan – auch dieser Vorgang muss der künftige Landtagsuntersuchungsausschuss endlich klären. Heute behaupten sie, nicht gewusst zu haben, dass der Ku-Klux-Klan eine rassistische Organisation ist. „Ich frage mich, wie viel Dummheit oder Weltfremdheit in einem Polizeibeamten stecken darf, ohne dass er aus dem Dienst entfernt wird“, kommentierte André Schulz, Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, die offenkundige Ausrede.
Steht der Schutz von V-Leuten über dem Gesetz?
In diesem Buch und auch in dem zeitgleich erschienenen Buch „Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU“ findet man sicher genug Hinweise, die zeigen: Es ist keineswegs „alles ausermittelt“. Ist eine Frage beantwortet, wirft sich die nächste schon auf.
Darf der Schutz eines V-Mannes über das Gesetz gestellt werden? Das war die beklemmendste Frage des Abends. Welche Grenzen werden überschritten, wenn der Innenminister kategorisch zur Aussage von zwei Polizisten vor der Enquetekommission des Landtags keine Genehmigung erteilt? Die Begründung Reinhold Galls in der „Rhein-Neckar-Zeitung“ hört sich seltsam bis konstruiert an: Die Anhörung der Polizisten sei „aus mehreren Gründen problematisch“, zitiert die Zeitung aus einem Schreiben des Innenministeriums. So sei deren Funktion als frühere Leiter der Soko „Parkplatz“ und ihre Tätigkeit als Polizeibeamte in demselben Ermittlungsverfahren „mit der Rolle als Sachverständiger nicht vereinbar“.
Es bleiben auch nach diesen zwei Büchern viele Fragen und zu wenige Antworten, vor allem für die Angehörigen der Opfer.
Unsere bisherigen Beiträge in Sachen „NSU“ können hier nachgelesen werden.
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