Stuttgart. Hat der Verfassungsschutz die rechte Szene infiltriert oder die rechte Szene den Verfassungsschutz? So formulierte Opferanwalt Sebastian Scharmer am Dienstag bei einer Podiumsdiskussion in Stuttgart die Frage, die sich beim Versuch, den Terror des NSU aufzuklären, immer mehr aufdrängt: Was wusste und welche Rolle spielte der Inlandsgeheimdienst, der die rechte Szene über seine V-Leute zumindest mitfinanzierte?
Die Bundestagsabgeordneten Clemens Binninger (CDU) und Petra Pau (Linke) appellierten dringend an den baden-württembergischen Landtag, wegen offener Fragen zu den Ermittlungen und den vielen Spuren des NSU ins Land einen Untersuchungsausschuss einzurichten. 52 Personen aus dem NSU oder seine Unterstützer hatten ab Mitte der neunziger Jahre Kontakte nach Baden-Württemberg, besonders in den Raum Heilbronn, Stuttgart, Ludwigsburg, Schwäbisch Hall und Rems-Murr. So steht es im Bericht der „Ermittlungsgruppe Umfeld“ des Landesinnenministeriums: „Als für die Ermittlungen der EG Umfeld relevant im engeren Sinne (…) wurden insgesamt 52 Personen erachtet, bei denen ein direkter Kontakt zum Trio beziehungsweise zu den Kontaktpersonen des Trios nachgewiesen ist und bei denen ein Bezug zu Baden- Württemberg besteht.“ Mitglieder des so genannten Trios machten auch nach seinem Untertauchen bis 2001 regelmäßig Besuche im Land.
Es gab eine aktive Ku-Klux-Klan-Gruppe, der auch zwei Polizeibeamte angehörten, die bis heute im Dienst sind. Einer von ihnen war Gruppenführer der ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter – nur einige der zahllosen, kaum noch überschaubaren Merkwürdigkeiten des Falls, in dem es auch zwei plötzliche Todesfälle von Zeugen unmittelbar vor weiteren Vernehmungen gab.
Über Parteigrenzen hinweg
Petra Pau und Clemens Binninger waren Obleute ihrer Fraktionen im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags, dessen gute Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg immer wieder gelobt wird. Auch bei der Diskussion im Evangelischen Bildungszentrum Spitalhof in Stuttgart unterschied sich ihre Einschätzung nur in einem Punkt: Die Abgeordnete der Linken und Bundestags-Vizepräsidentin Pau hält den Verfassungsschutz für unkontrollierbar und will ihn abschaffen. Ihr CDU-Kollege, Vorsitzender des geheim arbeitenden Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags, möchte ihn reformieren und ihm vor allem engere Grenzen beim Umgang mit V-Leuten setzen, den angeheuerten Spitzeln aus der Szene.
„Es ist immer eine Gratwanderung, wie nah geh ich ran. Verabschiede ich mich zu früh, erfahre ich nichts. Bleibe ich zu lange dran, besteht die Gefahr, dass ich Mittäter werde“, führte Binninger zur Verteidigung des Verfassungsschutzes an. Er habe die Gratwanderung im NSU-Komplex jedoch „wohl ein paarmal verloren“. Zwar könne man „eigentlich in diesem Fall nichts ausschließen“, räumte der Abgeordnete ein, doch es gebe „Stand heute keinerlei Erkenntnisse, Indizien oder Aktenfundstücke, dass einer des Trios V-Frau oder V-Mann war“.
Was wusste der Verfassungsschutz?
Im Gegensatz zu NSU-Ausschüssen der Länder halten Binninger und Pau einen zweiten Untersuchungsausschuss auf Bundesebene derzeit für entbehrlich – obwohl noch unbearbeitetes Material aus Baden-Württemberg in Berlin vorliegt. Binninger würde seine Meinung ändern, „wenn der NSU-Fall in wesentlichen Teilen neu erzählt werden müsste“: Wenn sich etwa herausstellen sollte, dass es mehr als drei NSU-Täter gab; wenn ein V-Mann des Verfassungsschutzes so nah an dem Trio dran war, dass er den Aufenthaltsort der Untergetauchten kannte; oder wenn deutlich wird, dass die in Heilbronn ermordete Polizistin Michèle Kiesewetter kein Zufallsopfer war. Genau das legen viele Indizien nahe, doch bisher gibt es dafür keine Beweise.
Den schwersten Stand bei der Diskussion hatte der SPD-Landtagsabgeordnete Nikolaos Sakellariou. Er gab sich alle Mühe zu rechtfertigen, dass die grün-rote Koalition in Stuttgart nur eine Enquete-Kommission mit weit geringeren Befugnissen als ein Untersuchungsausschuss eingerichtet hat. Trotz seines Arguments, in eine solche Kommission könnten auch zivilgesellschaftliche Kräfte eingebunden werden, gelang es Sakellariou nicht, die zirka 50 Zuhörerinnen und Zuhörer zu überzeugen – und ebenso wenig die anderen Podiumsredner.
Enquete ist ein stumpfes Schwert
„Eine Enquete, die darauf angewiesen ist, was sie freiwillig von den Behörden bekommt, ist doch ein stumpfes Schwert“, sagte Binninger. Er bezweifelte, dass es Baden-Württemberg durchhalten könne, als einziges Bundesland auf einen Untersuchungsausschuss zu verzichten. „Wählen Sie eine Form, die ihnen auch die nötigen Befugnisse gibt. Zeigen Sie, dass das Parlament die Exekutive kontrolliert und nicht die Exekutive sich selber“, so sein Appell mit Blick auf den Bericht der „Ermittlungsgruppe Umfeld“ des Landesinnenministeriums.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus war Gastgeber der Gesprächsrunde. Die sehr sachkundige Journalistin und Referentin der Linksfraktion im Bundestag Heike Kleffner moderierte. Auch im Publikum fanden sich Expertinnen und Experten, so dass die gut zweistündige Diskussion ein hohes Niveau erreichte und viele Details zur Sprache kamen.
Anwalt: Mehr als drei NSU-Täter
Kleffner zitierte eingangs Stefan Aust und Dirk Laabs, die Autoren des vor kurzem erschienenen, fast 900 Seiten starken Buchs „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“. Sie bezeichnen den Mord an der jungen Polizistin Michèle Kiesewetter aus Thüringen im April 2007 in Heilbronn als den vermutlich am schlampigsten und sonderbarsten recherchierten Mordfall an einem Polizisten in der jüngeren deutschen Geschichte.
Warum traf es eine Polizeibeamtin, warum gerade diese, warum in Heilbronn – und warum hörte die Serie nach derzeitigem Kenntnisstand damit auf? Solche Fragen könnten im Münchner Prozess gegen Beate Zschäpe und einige Helfer des NSU nicht geklärt werden, sagte Sebastian Scharmer, der die Tochter eines Mordopfers als Nebenklägerin vertritt. Er und seine Mandantin sind überzeugt, dass der NSU aus mehr Personen als dem Trio bestand.
Plötzlicher Tod eines V-Manns
Dringend forderte Scharmer auch einen neuen Bundestags-Untersuchungsausschuss. Neben dem Bezug zum Ku-Klux-Klan müssten nach dem plötzlichen Tod des V-Manns „Corelli“ neue Fragen geklärt werden. Er starb laut Obduktionsbericht mit 39 Jahren an den Folgen einer nicht erkannten Diabetes.
„Corelli“ wurde vom BfV, dem Bundesamt für Verfassungsschutz, als „Schlüsselquelle“ geführt. Sein Name fand sich auf der Adressliste, die 1998 kurz vor dem Untertauchen von Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos in ihrer Garage sichergestellt, aber lange nicht beachtet wurde. „Wenn man die liest, läuft einem ein bisschen ein kalter Schauer den Rücken runter“, bekannte Binninger: „Sie liest sich wie eine Landkarte der Flucht- und Tatorte.“ Überdies zeichnete „Corelli“ verantwortlich für ein im Jahr 2002 erschienenes Heft „Weißer Wolf“, in dem der NSU erstmals namentlich erwähnt wurde. Im selben Jahr tauchte er als Mitglied der zirka 20-Mann-starken Klux-Klan-Gruppe auf, deren Gründer aus Schwäbisch Hall kam.
Bundestag verlangt „Corelli“-Akten
Das Parlamentarische Kontrollgremium, berichtete Binninger, hat den Bundesverfassungsschutz aufgefordert, noch vor der Sommerpause alle Akten der letzten 20 Jahre zu „Corelli“ vorzulegen, ebenso zum V-Mann „Tarif“, der eine weitere Schlüsselrolle zu spielen scheint. Petra Pau konnte ihrem Bundestagskollegen nur Glück wünschen, dass „Corellis“ Akten nicht zu denen gehören, die der Verfassungsschutz nach dem Auffliegen des Trios schredderte. Zumindest die meisten Akten zu „Tarif“ seien wohl der „Aktion Konfetti“ zum Opfer gefallen.
Nikolaos Sakellariou, der für die SPD der Landtags-Enquete-Kommission angehört, berief sich auf seine umfassende Untersuchungsausschuss-Erfahrung („Flowtex, Schlossgarten I und II“). Zweck eines solchen Ausschusses sei, Regierungshandeln zu überprüfen. Die genannten Fragen könnten wegen des Aussageverweigerungsrechts von Beschuldigten weder mit polizeilichen Mitteln noch von einem Untersuchungsausschuss noch von der Enquete-Kommission geklärt werden, sagte er voraus. „Wenn ich einen Weg wüsste, wie wir zu Antworten kommen, würde ich ihn gehen.“
Material aus dem Land traf verspätet ein
Der Bundestags-Untersuchungsausschuss habe seine Arbeit immer so verstanden, dass es um die Kontrolle des Behörden- und Regierungshandelns gehe, widersprach ihm Petra Pau. Es sei gut gewesen, dass Thüringen, Sachsen und Bayern ebenfalls Untersuchungsausschüsse einrichteten. Zumindest Bundesländer wie Baden-Württemberg, in denen Tatorte von Morden und Sprengstoffanschlägen liegen, müssten folgen – am besten aber auch alle anderen mit Bezügen zum NSU.
Hätte Baden-Württemberg einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, hätte sich der Bundestagsausschuss stärker auf den Bund konzentrieren können. Die letzten Akten aus dem Land seien jedoch erst eine Woche nach Übergabe des Abschlussberichts nach Berlin in Gang gesetzt worden. „Wir konnten sie nicht mehr in irgendeiner Weise würdigen.“
Täglich zwei bis drei Übergriffe
Pau begrüße die Enquete-Kommission, denn der NSU sei ja keine Ausnahme in einer ansonsten intakten Gesellschaft, sondern es gebe bundesweit ein rechtsextremistisches Problem – und täglich zwei bis drei rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten. „Da kann sich jeder ausrechnen, über wie viele Opfer wir reden“, appellierte sie, im Land eine Beratungsstelle für die Betroffenen einzurichten, wie es sie in den meisten Bundesländern bereits gibt.
Binninger widersprach Sakellariou ebenfalls. Wenn seine Argumente gegen einen Untersuchungsausschuss stimmten, hätten alle Länder dasselbe Problem. Doch die hessische SPD habe einen Ausschuss durchgesetzt – gegen den Willen der Regierung: „Überall, wo die Grünen mitregieren, stehen sie auf der Bremse“, so Binningers Vorwurf.
Parlament muss Exekutive kontrollieren
„Wie konnte es sein, dass zehn Menschen ermordet werden, obwohl eine Menge V-Leute in der Umgebung sind, und dass keine Behörde etwas gesehen hat. Das muss doch untersucht werden, so etwas“, forderte Binninger. Dem Bundestag sei es darum gegangen, dass das Parlament als gewählte Volksvertretung die Exekutive kontrolliert. Dabei dürfe man sich keine Illusionen machen: „Die Verfassungsschutzbehörden sprühen nicht vor Begeisterung, wenn sie mit der Polizei zusammenarbeiten müssen“ – und geben auch Parlamentariern nicht gern Auskunft über ihre Arbeit.
So sei der Ausschuss etwa darauf gestoßen, dass die Polizei einen V-Mann-Führer im Raum Ludwigsburg, Stuttgart, Heilbronn vernehmen wollte, der jedoch keine Aussagegenehmigung erhielt. „Allein solche Punkte sind jeden Versuch aufzuklären wert“. Sakellariou erkärte, er habe andere Informationen über die fragliche Aussagegenehmigung. Er nannte aber keine Einzelheiten.
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